Musik von Avo Pärt / Musiktheater / Deutsche Oper, Berlin / 60 min / 2024
Die Junge Deutsche Oper Berlin kooperiert für das Musiktheater-Projekt »Stabat Mater« nach Arvo Pärt mit dem inklusiven Theater RambaZamba. Die Produktion, an der rund 30 Jugendliche beteiligt sind, steckt in jeder Hinsicht voller Überraschungen.
Von der Ekstase zur Andacht ist es nur ein kurzer Weg. Gerade noch haben die Jugendlichen auf der Probe wild im ganzen Raum zum Song »Die Young« der Sängerin Kesha getanzt, sich aufgewärmt zu stampfenden Carpe-diem-Beats (»Let’s make the most of the night like we’re gonna die young«!). Jetzt holen sie mitgebrachte Marmeladengläser hervor, stellen Kerzen hinein und versammeln sich zur ersten Szene. Das Saallicht geht aus, und langsam setzt sich eine Prozession in Bewegung, ein summender, sonor tönender Chor im Dunkeln. Eine der Spielerinnen, Anastasiia, trägt darüber einen Text auf Ukrainisch vor. Eine andere, Louise, zitiert aus Bertolt Brechts Gedicht »Die Bitten der Kinder«: »Die Mütter sollen nicht weinen. Keiner soll töten einen.«
Auf der Probebühne des Theaters RambaZamba am Prenzlauer Berg entsteht momentan ein Projekt – als Kooperation zwischen dem inklusiven Haus und der Jungen Deutschen Oper Berlin. Eine Gruppe von rund 30 Spielerinnen und Spielern hat sich dafür zusammengefunden. Menschen mit und ohne Behinderung, Jugendliche aus Berlin und der Ukraine. Im Zentrum soll das Stück »Stabat Mater« des estnischen Komponisten Arvo Pärt stehen, die Vertonung des mittelalterlichen Gedichts, das von der Trauer der Maria um ihren gekreuzigten Sohn erzählt. »Stabat mater dolorosa«, »Es stand die Mutter schmerzerfüllt«.
Sie habe lange nach einer Musik gesucht, die für alle andockfähig sei, erzählt die Regisseurin Kirsten Burger, die seit 2022 das Junge RambaZamba leitet. »Tatsächlich habe ich noch nie eine Gruppe erlebt, die so sehr an Religion interessiert war.« Gerade die Jugendlichen aus der Ukraine seien überwiegend orthodox und auf einer spirituellen Suche, »gleichzeitig sind viele von ihnen kriegstraumatisiert und glauben nicht mehr an die Möglichkeit von Frieden.« Krieg, Gewalt, Traumata – auch diese Themen werden ihren Raum einnehmen. Burger plant, um das zentrale »Stabat Mater« – das von professionellen Sängern und Streichern der Deutschen Oper Berlin aufgeführt wird – einen Rahmen zu bauen. Mit elektronischen Kompositionen, anderen Liedern, vielleicht aus der Kooperation von Arvo Pärt mit dem Vokalensemble »Theatre of Voices«. Und eben selbstverfassten Texten der Spielerinnen und Spieler, die einbringen sollen, was ihnen auf dem Herzen liegt.
Ein partizipatives Projekt wie dieses verlangt von allen Beteiligten Offenheit, auch Flexibilität. Von den Kostümbildnerinnen Carlotta Dering und Marlene van Dieken, die sich auf immer neu entwickelte Szenen und deren Anforderungen einstellen.
Wie verschieden die Lebenswege und Perspektiven sind, die hier zusammenkommen, wird in den Gesprächen mit Beteiligten am Rande der Probe deutlich. Nuria macht das Tanzen und Singen am meisten Spaß – und die Anfangsszene: »Wenn ich mit der Kerze reinkomme, habe ich das Gefühl, als wäre ich ein sehr religiöser Mensch.« Niklas war schon bei Kirsten Burgers vorangegangener RambaZamba-Produktion »Schwärmen« beteiligt, einem Stück über den Klimawandel im Humboldt Forum. »Das Wichtigste am Theater ist Konzentration«, sagt er. »Nicht noch schnell irgendwo hinrennen, sondern sofort anfangen.« Valeriia ist auf der Krim aufgewachsen und stammt aus einer jüdischen Familie, die Großmutter ist in Polen geboren. Entsprechend zwiespältig sei es für sie, »die Deutschen über den Krieg in der Ukraine reden zu hören.« Anastasiia wiederum erzählt von einer Frage, die während der Probe aufkam: »Was ist dein Traum?«. Ihrer sei furchtbar naiv: »Ich will, dass in jedem Land Frieden herrscht.«
Die Begegnung mit Anastasiia wirft einen als Besucher von außen aber auch auf die eigenen falschen Erwartungen und Projektionen zurück. Was sie von Pärts »Stabat Mater« halte, will man wissen. Sie schaut ratlos, versteht die Frage nicht. Also noch mal, langsam und deutlich: Pärt? Der Komponist? Anastasiia unterbricht: »Ich kenne Arvo Pärt, ich habe in der Ukraine acht Jahre lang im klassischen Orchester gespielt«, Geige, Klavier und Domra, eine Schalenhalslaute. »Aber wie soll ich in wenigen Worten ein solches Meisterwerk beschreiben?«. Pärt, fügt sie dann noch an, wechsle binnen einer Sekunde »von Sonne zu Regen«. Da reiche es doch nicht zu sagen: »Oh, ein schönes Legato«.
Die Überraschungen, sie reißen nicht ab an diesem Nachmittag. Csilla und Louise sind als Spielerinnen und Musikerinnen an »Stabat Mater« beteiligt, sie haben eine Band die »Kalte Knie« heißt und deren Musik »von außen häufig als Punkrock-noisy-alternative-Irgendwas« beschrieben wird, wie Louise sagt. Aber eigentlich wollen sie sich nicht in Schubladen stecken lassen.
Csilla beschreibt das produktive Chaos einer Stückentwicklung, die keinen Regeln folge, »weil Jugendliche mit Beeinträchtigung ein ganz eigenes Empfinden dafür haben, was sie machen wollen und was nicht.« Musik, sagt sie, sei da eine gute Möglichkeit, »um Brücken zu bauen.« Louise erzählt, dass sie Brechts »Bitten der Kinder« als Lied auf die Probe mitgebracht habe. Sie sei darauf gekommen, »weil mein Großvater das damals vertont hat.« »Ihr Großvater war Paul Dessau«, ergänzt Csilla lapidar.
Regisseurin Kirsten Burger, die selbst auf eine bemerkenswerte Biografie blickt – die als Theater-Schauspielerin schon viel mit Robert Wilson gearbeitet hat und Mitbegründerin des freien Kollektivs Oper Dynamo West war, die Filme dreht und das Junge RambaZamba leitet – sagt über die Arbeit: »Für mich gehen auf der Probe jede Woche Welten auf.« Das glaubt man ihr sofort. Auch Anastasiia, die zuvor noch nie mit Menschen mit Behinderung zusammengespielt hat, erzählt, wie bereichernd dieses Projekt für sie ist: »Für gewöhnlich verstecken die Menschen ihre Gefühle hinter Masken, wie im Theater. Hier trägt niemand eine Maske, obwohl es Theater ist.«
Patrick Wildermann
Aufführungen
Team:
Regie und künstelerische Leitung: Kirsten Burger
Bühne: Julia Krenz
Dramaturgie: Loretta Würtenberger
Choreografische Mitarbeit: Fernando Balsera Pita Percussion
Kostüme: Carlotta Dering, Marlene van Dieken
von und mit: Aila Wittig, Anastasiia Hryshchenko, Alya Share, Bohdan Pyliavskyi, Charlotte Ausan, Csilla Feher, Daniel Beesk, Denise Soliva, Felix Hasselbach, Ivan Rabosh, Leander Helm, Lotte Latscha, Louise Dessau, Malina Höfflin, Milica Milic, Niklas Ufer, Niklas Weise, Nuria Kovacs, Leif Lapuks, Parastu Ghashghaie, Paulina Schulz, Setareh Hashemi, Tony Plate, Valeriia Beketova.
Wegen künstlerischer Differenzen, musste das Team die Arbeit kurz vor der Premiere niederlegen.
Die daraufhin erfolgte Premiere ist auf der Grundlage unserer einjährigen Arbeit erfolgt, hatte aber nur noch wenig mit der von uns inszenierten Arbeit zu tun.